Gewaltsame Spiele

In Rio de Janeiro kämpfen die Bewohner_innen von Vila Autódromo gegen Verdrängung durch Olympia

von Frank Müller

Anfang Juni, zwei Monate vor Beginn der Olympischen Sommerspiele, wird im Westen von Rio de Janeiro noch eifrig am Olympiapark gebaut. Der erstreckt sich mehrere Kilometer entlang der Lagune von Jacarepaguá. Die Sportler_innen, Medienvertreter_innen und Zuschauer_innen sollen nicht im Stau stecken bleiben – wenn alles gut geht, wird auch die neue Buslinie Transcarioca rechtzeitig rollen.

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Foto: Fabian Kron (CC BY-ND 2.0)

Hundert Meter entfernt vom Übertragungszentrum für die Olympischen Spiele, im Schatten des eigens für die Journalist_innen aus aller Welt errichteten Marriott-Hotels, reihen sich zehn Wohncontainer aneinander. Ihnen gegenüber, auf der anderen Seite der Sandpiste, stehen fünf Häuser, teils ohne Dach, dafür mit Löchern in den Wänden. Abrissbirnen haben hier ein Museum der Zerstörung hinterlassen – das, was von der kleinen Favela Vila Autódromo übriggeblieben ist. Und doch ist die Vila über die Stadt- und Landesgrenzen hinaus zu einem Symbol des Widerstandes geworden, gegen Verdrängung, Immobilienspekulation und Entrechtung ärmerer Bevölkerungsgruppen. Ein Widerstand mit vielen Tiefen, einigen Höhen und: einem erfolgreichen Ende. Ach ja?

»Reurbaniza já! Wiederaufbau jetzt!«

Vila Autódromo liegt im rasant wachsenden Barra da Tijuca, einem Luxusviertel Rio de Janeiros, westlich der Strände von Ipanema und Copacabana. Im letzten Jahrzehnt sind die Bodenpreise enorm gestiegen, Bauland wird langsam knapp. Barra da Tijuca ist besonders bei einer jüngeren, ökonomisch starken Bevölkerungsschicht beliebt: Shopping-Malls sowie geschlossene Wohnviertel mit Pool und Golfplatz erinnern an US-amerikanische Vorstädte.

Die ersten, meist zweistöckigen Häuser entstanden in den 1970er Jahren. Die frühen Siedler_innen waren Fischerfamilien, Migrant_innen aus Brasiliens Nordosten. Aber auch politisch Verfolgte der Militärdiktatur (1964-1985) bauten hier. Das Viertel war von Anfang an durch Selbstorganisation geprägt. Strom- und Wasserleitungen legten die Bewohner_innen selbst, sie errichteten eine Kirche und das Gemeindezentrum. Dann, in den frühen 1990er Jahren, begannen die Fälle staatlicher Gewalt. Persönliche Drohungen, nächtliche Besuche durch die sogenannte »Schocktruppe« der Militärpolizei und Abrisse von Häusern ohne gerichtlichen Beschluss folgten. Widerstand formierte sich, zunächst kollektiv und ungeteilt.

»Gemeinsam mit einer Gruppe von Architekten der staatlichen Universität haben wir einen Bebauungsplan entwickelt«, erinnert sich Marcia, während sie vor ihrem Container Kaffee trinkt. Von der Deutschen Bank gab es dafür einen hochdotierten Preis, von der Stadtverwaltung eine Absage. Die Siedlung verhindere die Sanierung der Lagune und stehe der Schnellbustrasse im Weg. »Ignorant sind die: Niemand hätte hier weggemusst, nach unserem Plan hätten alle Platz gehabt, trotz Olympiapark und Buslinie.«

Der Forderung nach »Wiederaufbau jetzt«, die auf zwischen den Häusern gespannten Transparenten geschrieben steht, wird Anfang April dieses Jahres endlich nachgegeben; die Bewohner_innen der Vila einigen sich mit Vertreter_innen von Bürgermeister Eduardo Pães auf einen Deal. Die Container dienen als Übergangswohnung, da die neuen 20 Häuser dort gebaut werden, wo früher die selbsterrichteten standen. Man wollte hier nicht weg, nicht einmal während der Neubauphase, aus Mangel an Vertrauen und um die Bauarbeiten zu überwachen, erklärt eine Frau. Baubeginn war im Mai, bis zum 22. Juli werden die 55 Quadratmeter großen Wohneinheiten aus zwei Zimmern, Küche und Bad fertig sein, versichert der Bauleiter. Die Grundstruktur wird stabil genug sein für ein weiteres Stockwerk. Ein kleiner Park und ein Kulturzentrum sollen nach den Olympischen Spielen dazu kommen.

Ende gut, alles gut?

Sind nun also alle glücklich, frage ich Luiz Claudio. Der Mittvierziger schüttelt energisch den Kopf und zieht die Brauen zusammen: »Wir können nicht einfach die Jahrzehnte der Repression, der Polizeigewalt, der Bedrohungen vergessen. Die Regierung will uns seit 20 Jahren hier weg haben, wir sind das hässliche Gesicht der Armut, umgeben von Siedlungen für die Reichen.« Ja, wägt er ab, natürlich sei es super, dass sie nun hier wohnen bleiben können. Aber das Geschenk, als das es der Bürgermeister verkaufen will, sei das nicht.

Claudio sieht sich grimmig um und deutet auf eine Planierraupe. »Da hinten stand unser Haus. Da haben wir 20 Jahre lang gewohnt.« Wir, das sind noch Maria da Penha und Natalia, die gemeinsame Tochter. Ihr Haus wurde am Weltfrauentag, dem 8. März dieses Jahres, abgerissen, als Maria gerade zu Verhandlungen in den Regierungspalast von Rio aufgebrochen war.

Seit Maria bei der Verteidigung ihres Hauses von Polizisten blutig geschlagen wurde, hat das Ehepaar seine Geschichte häufig erzählt. Claudio fasst diese in radikalen Worten zusammen. »Wir waren hier niemals illegal!« Entsprechend der brasilianischen Verfassung und dem Gesetz 74 haben die Bewohner_innen von Vila Autódromo immer das Recht auf ihrer Seite gehabt. »Doch in Brasilien ist das Recht das eine, Gerechtigkeit etwas anderes«, fügt Claudio hinzu.

Seine Tochter Natalia pflichtet ihm bei: »Pães hätte uns viel früher entgegenkommen und unser Recht, hier zu bleiben, akzeptieren müssen. Doch die wollten nicht so viele Arme hier.« Und so wurde ein ums andere Mal verhandelt, versprochen und wieder vertagt.

Die allermeisten hielten den zähen Verhandlungen und dem Eindruck staatlicher Vernachlässigung einerseits sowie der Gewalt andererseits nicht Stand. Von den ehemals 2.300 Bewohner_innen sind nur 80 geblieben. Viele akzeptierten Entschädigungszahlungen, andere eine Ersatzwohnung in einer Wohnsiedlung des staatlichen Sozialbauprogramms »Mein Haus, mein Leben«. Eine klassische Anwendung des Prinzips Teilen und Herrschen, die erfolgreich 580 der 600 Familien »überredete«: »Die Verhandlungen liefen immer nur individuell. Das hat die Gemeinde tief gespalten. Erst zuletzt wurden wir als Gruppe akzeptiert«, erklärt Maria.

Schöne Bilder aus der Olympiastadt

Wenn am 22. Juli die Häuser fertig und bunt angestrichen sind, geht eine Etappe des Widerstands zu Ende. Man kann hier durchaus von einem relativen Erfolg im Angesicht des sportlichen Weltereignisses sprechen. Rund 67.000 Personen sollen im Zuge der Olympiaumbauten zwischen 2009 und 2013 umgesiedelt worden sein. Dass die verbliebenen Familien ihren Willen und ihr Recht durchsetzen, verdanken sie ihrer Ausdauer und interner, aber auch externer Solidarität.

Überraschend schnell gehe nun alles, wundert sich Claudio noch und fürchtet schon um die Qualität des neuen Heims. Denn in Windeseile und mit bis zu 14-stündigen Schichten klotzen die Bauarbeiter nun ran, sogar am Wochenende. Und all das, damit Vila Autódromo nun auch, ob gewollt oder nicht, zum olympischen Medienspektakel beiträgt: Der Kameraflug der Drohnen wird am 3. August nicht am Marriott enden müssen, sondern im sanften Zoom den Stadtumbau von Rio als sozial verträglich und integrativ feiern. Doch »es ist unsere gemeinsame Aufgabe, unsere Geschichte der Gewalt nicht hinter den schönen Bildern der Olympiastadt zu vergraben«, fordert mich Claudio zum Schreiben auf.

Frank Müller ist Postdoktorand in Rio de Janeiro und arbeitet zu Konflikten um Wohnraum, städtische Militarisierung und Pazifizierung.


Dieser Text erschien zuerst in der aktuellen Ausgabe der analyse&kritik