Revolte im Klassenzimmer

Rio de Janeiro rief jüngst einen Finanznotstand aus. Einschnitte machen sich in allen Bereichen bemerkbar, auch im Bildungssektor. Allerdings regt sich vor allem hier der Widerstand.

»Hier ist die Küche und dort hinten schlafen wir«. Thiago zeigt auf das Ende des abgedunkelten Raumes. Drei Jugendliche albern auf einem Berg aus Matratzen herum. Im weiträumigen Nebenraum stapeln sich die Stühle in einer Ecke. Mehrere Wäscheleinen sind zwischen einer Säule und einer mit Graffiti besprühten Wand gespannt. Aus einer kleinen Box dröhnt laute Rap-Musik. Eine Gruppe von Jugendlichen sitzt in einem Stuhlkreis und unterhält sich angeregt. Ein Mädchen in Schuluni- form färbt sich die Haare in einem Waschbecken. An einer Wand hängt ein gelbes »Besetzt«-Transparent.

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Mitte April besetzten die sogenannten »secundaristas« – die 14- bis 17-jährigen Schüler – die Amaro Cavalcanti-Schule. Die altehrwürdige Bildungseinrichtung wurde 1875 auf Befehl von Kaiser Dom Pedro II errichtet. Das imposante Schulgebäude befindet sich im Mittelschichtsviertel Catete, unweit des Zentrums von Rio de Janeiro. Auf dem gegenüberlie- genden Machado-Platz umrunden Blumengeschäfte einen Springbrunnen, aus dessen Mitte eine Jungfrau- Maria-Statue hervorragt. Alte Männer spielen im Schatten der Bäume Schach.

Ihren Anfang nahm die Besetzung der Amaro Cavalcanti mit einem Streik der Lehrer. Die fehlende Verhandlungsbereitschaft der Landesregierung brachte das Fass zum Überlaufen. Die Schüler solidarisierten sich mit den Lehrern und beschlossen die Tore ihrer Schule zu schlie- ßen. »Seit vielen Jahren betreibt diese Regierung massive Einschnitte in das Bildungssystem. Damit wurde unsere Bildung immer prekärer«, erklärt der 16-jährige Schüler Manuel Caleb Santos mit sachlicher Stimme. »Es gab keine andere Option als zu besetzen«. Im gesamten Bundesstaat von Rio de Janeiro kam es zu ähnlichen Aktionen – zwischenzeitlich hielten Schüler 65 Schulen geschlossen. Einige haben den Unterricht mittlerweile wieder aufgenommen, so auch die Amaro Cavalcanti. Der Unterricht findet trotzdem nur unre- gelmäßig statt.

Inspiriert wurden die »secundaristas« in Rio de Janeiro von den Erfolgen in São Paulo. Dort besetzten Schüler im vergangenen Jahr über 200 von der Schließung bedrohte Schulgebäude, nachdem Gouverneur Geraldo Alckmin eine »Reorganisierung« des Bildungssektors beschlos- sen hatte. Aufgrund des starken Drucks nahm Alckmin die umstrittene Reform kleinlaut zurück. Die Schülerbewegung feierte dies als Riesenerfolg.

IMG_8045Die Bedingungen an den öffentlichen Schulen Brasiliens sind katastrophal. Die glanzvolle Fassade der Amaro Cavalcanti-Schule ist trügerisch. »Im dritten Stock droht die Decke einzustürzen deshalb sollte der Unterricht im Hof stattfinden«, erinnert sich der 17-jährige Thiago. Klassen mit bis zu 50 Schülern sind keine Seltenheit. An Klimaanlagen ist nicht zu denken, die meisten Ventilatoren sind kaputt. An heißen Tagen verwandeln sich die Klassen- zimmer in »Saunen« – an Unterricht ist dann nicht zu denken. Zudem ist das Trinkwasser regelmäßig stark verschmutzt. Oft bleiben die Hähne sogar ganz trocken. Ein Rundgang durch die Schule bestätigt das Bild der Schüler. Die Klassenräume sind kahl und spartanisch eingerichtet. Multimediagerät wie Computer oder Beamer sucht man vergeblich. Die wenigsten Klassenzimmer haben Türen. Aus einem Klo läuft Wasser in den Gang. Die erste Renovierung seit Jahren leisteten die Schüler selbst: Mit Eimer und Pinsel bewaffnet gingen sie durch die Schule und verpassten ihr einen neuen Anstrich.

Während sich große Teile der Mittel- und Oberschicht teure Privat- schulen leisten können, sind einkommensschwache Brasilianer auf die öffentlichen Schulen angewiesen. Die fehlenden Mittel und die schlechte Bezahlung der Lehrer machen eine gute Schulausbildung und damit auch Aufstiegschancen praktisch unmöglich. Die aktuelle wirtschaftliche Tal- fahrt im Land verschärft die Proble- me. Unlängst rief die Stadt den »finanziellen Notstand« aus. Viele öf- fentliche Angestellte erhalten seit Monaten keinen Lohn. Die Mittel für Bildung im Bundesstaat Rio de Janeiro sanken im Jahr 2016 um um- gerechnet 1 Milliarde Euro.IMG_8107

An der Amaro Cavalcanti findet mittlerweile zwar wieder Unterricht statt, jedoch bleiben Teile des Ge- bäudes weiterhin besetzt. »Viele von uns haben in den letzten Monaten vielleicht zwei- oder dreimal zu Hause geschlafen«, erklärt Thiago, der von Anfang an mit dabei war. Die Orga- nisation in der Besetzung ist klar geregelt: Aufgaben wie Putzen oder Kochen werden gemeinschaftlich übernommen. Kommissionen kümmern sich um die Kommunikation und Si- cherheit. Auch am Wochenende ist die Schule durchgängig besetzt.

Außerdem organisieren die Schüler kulturelle Veranstaltungen und Konzerte. Derzeit bauen die Besetzer an einem vertikalen Garten aus Plastikflaschen. Diskriminierung ist Tabu. Ein Plakat an der Wand macht deutlich: »Besetzung frei von Homo- phobie, Machismus und Rassismus«.

IMG_8122Doch nicht alle der über 2.000 Schüler der Amaro Cavalcanti unterstützen die Aktionen der Besetzer. Einige haben sogar eine Gegenbewegung aufgebaut. Trotzdem soll die Besetzung aufrechterhalten bleiben. Unterstützung erhalten die Schüler von sozialen Bewegungen und gemeinnützigen Organisationen. Auf die Zusammenarbeit mit Parteien verzichten die jungen Aktivisten hingegen. »Die wollen sich doch bloß verkaufen und damit Gewinn rausschlagen. Wenn es wirklich darauf ankommt, sind sie nicht da«, kritisiert Manuel.Wie es weiter geht, weiß niemand so richtig. »Für fast alle ist es der erste politische Kampf. Alles ist neu für uns«. Jedoch erwarten die Schüler nichts Gutes für die kommenden Wochen. Am 5. August beginnen die Olympischen Spielen in der Stadt. »Sie haben kein Geld für uns, aber für Olympia? Was ist das für ein Vermächtnis?«, fragt der Schüler Vitor Barbosa da Silva mit einem verächtlichen Lachen. Auf einem handbemalten Plakat am Ausgang der Besetzung heißt es: »Nenn mich Olympia und investiere in mich. Absender: Bildung«.

von Niklas Franzen, Rio de Janeiro 

Dieser Artikel erschien zuerst in der Tageszeitung neues deutschland