Jede Stimme zählt: Das Ende des Impeachments

Während in Rio de Janeiro morgen die Sommerolympiade feierlich eröffnet wird, haben die Brasilianer*innen im Alltag ganz andere Sorgen. Politisch befindet sich das Land in einem Ausnahmezustand, der noch eine Weile andauert.
Von Uta Grunert
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Foto: Mídia NINJA

Die Entscheidung des Nationalkongresses über Rückkehr oder endgültige Suspendierung von Dilma Rousseff wird mit Spannung erwartet, wahrscheinlich kurz nach Ende der Olympiade in Rio de Janeiro, die am Freitag von Interimspräsident Temer eröffnet wird.

Eine Crowdfunding-Kampagne[1] von zwei alten Weggefährtinnen aus dem Kampf gegen die Diktatur hat finanzielle Mittel für Reisen der abgesetzten Präsidentin  eingespielt. Dilma bleibt wenig Zeit, um ihr angeschlagenes Image der jüngsten Zeit aufzubessern – sie befindet sich quasi in einem außerplanmäßigen Wahlkampf. Gleichzeitig ringt sie um demokratische Werte, da sie und ihre Anhänger*innen das Amtsenthebungsverfahren als institutionellen Putsch ablehnen. Er würde Michel Temer – ohne eine Wahl gewonnen zu haben – bis 2018 das Präsidentenamt sichern ..

Bei der entscheidenden Abstimmung benötigt sie 28 Stimmen des Senats, um die Amtsenthebung zu kippen. 22 Stimmen hatte sie im ersten Durchlauf bereits erhalten. Sollten diese alle bei ihrer Haltung bleiben, fehlten 6 neue Senator*innen, um die Suspendierung rückgängig zu machen. Nach Angaben von El Pais[2] kämpfen Temer und Rousseff um die Stimmen von 17 Senatoren, deren Abstimmung im zweiten Durchgang als offen oder abweichend eingeschätzt wird. Andere Pressestimmen analysieren, dass es zwei Gruppen[3] im Kongress gibt, die zu einer Änderung ihres Abstimmungsverhaltens bereit sein könnten – eine davon allerdings unter der Voraussetzung, dass Dilma anschließend Neuwahlen zulässt. Eine zweite Gruppe könnte neu zu der Auffassung gelangt sein, dass die vorgebrachten Vorwürfe gegen Dilma für eine Amtsenthebung nicht ausreichen. Nach einzelnen Aussagen hat diese Gruppe bei der ersten Abstimmung nicht Pro-Amtsenthebung, sondern für eine tiefere Untersuchung der Vorwürfe gestimmt. Inzwischen haben ausführliche Anhörungen stattgefunden und es liegt eine umfassende Verteidigungsschrift der Angeklagten vor. Dass darüber einige Kongressabgeordnete ihr Abstimmungsverhalten ändern, ist vorstellbar.

Bündnisse wie die Frente Povo sem Medo[1], die 2015 gegen den Rechtsruck bei Demonstrationen entstanden ist und sich die Verteidigung sozialer Errungenschaften auf die Fahnen geschrieben hat, oder die Frente Brasil Popular drängen auf die Wichtigkeit von politischen Reformen: Politik dürfe nicht von Wahlkampfspenden und dem Großkapital abhängig sein. Als Stärkung der Demokratie brauche sie außerdem Instrumente, über die die Bevölkerung an Entscheidungen direkt zu beteiligen sei. Dies fordert u.a. Guilherme Boulos[2], der Vorsitzende der Obdachlosenbewegung Movimento dos Trabalhadores Sem-Teto  MTST. Er beobachtet außerdem, dass es eine neue Präsenz von Demonstrationen und Besetzungen gibt, sei es von Lehrer*innen und Schüler*innen, die in  Espiritu Santo, Rio Grande do Sul, São Paulo, in Goiás Schulen besetzt haben. In Rio de Janeiro wurde neben über 60 Schulen das staatliche  Schulamt besetzt[3], um für besser ausgebildetes Personal, eine bessere Ausstattung und mehr Mitsprache der Schüler*innen zu protestieren. Die Übergangsregierung Temer hatte zunächst das Kultusministerium abgeschafft. Die Demonstrant*innen haben eine klassische Protestform der Landlosen- und Obdachlosen-Bewegungen übernommen, die in den zurückliegenden Regierungsjahren an Bedeutung verloren hatte. Blockaden von Straßen und Landbesetzung gehörte dereinst zum gefürchteten Repertoire Protestierender. Der Fokus wurde stattdessen vermehrt auf Kooperation, dem sich Einbringen in die Regierung gelegt. Nun kehren diese machtvollen Ausdrucksformen politischer Gegengewalt zurück in die öffentliche Wahrnehmung.


[1] http://www.sinsej.org.br/wp-content/uploads/2015/11/Manifesto-POVO-SEM-MEDO.pdf

[2] http://www.raiz.org.br/estamos-no-fim-de-um-ciclo-da-esquerda-no-pais-diz-boulos

[3] http://agenciabrasil.ebc.com.br/geral/noticia/2016-05/estudantes-encerram-ocupacao-da-secretaria-de-educacao-no-rio

 


[1] http://exame.abril.com.br/brasil/noticias/crowdfunding-bate-meta-e-dilma-ganha-r-500-mil-para-viagens

[2]http://brasil.elpais.com/brasil/2016/07/07/politica/1467844647_479336.html

[3] http://www.redebrasilatual.com.br/politica/2016/06/quatro-grupos-se-articulam-para-sessao-do-impeachment-um-pro-temer-tres-pela-volta-de-dilma-4005.html