London 2012, Rio 2016, Tokio 2020 – Olympia ist schädlich für jede Stadt

Statement von NOlympia Hamburg zu den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro

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Mit dem Ausgang des Referendums im Dezember 2015 in Hamburg haben sich in den letzten Jahren neun Städte bzw. Regionen in Nordamerika und Europa gegen eine Olympiabewerbung entschieden: Schon zuvor hatten Kraków, Oslo, die Region Graubünden, München, Boston und Toronto eine Bewerbung abgelehnt, zum Teil als Ergebnis eines Volksentscheids, zum Teil aufgrund starker Vorbehalte in der Bevölkerung, die die jeweilige Administration zwang, ihre Bewerbungs-Aktivitäten einzustellen. Diese Reihe setzt sich weiter fort: Zuletzt hatte Barcelona auf eine erneute Bewerbung verzichtet, nach der Wahl einer neuen Bürgermeisterin steht die Bewerbung Roms für die Spiele 2024 zur Diskussion.

Das IOC und der „olympische Zirkus“ zeigen sich davon – zumindest öffentlich – völlig unbeeindruckt und halten an dem überkommen Konzept eines überdimensionierten und kommerzialisierten Events fest. Olympiakritische Initiativen haben mit einer Reihe von Sachargumenten diese Gigantomanie kritisiert, auf ihre gravierenden Auswirkungen hingewiesen und die meist fadenscheinigen Erfolgsversprechen entmystifiziert. Dies gilt auch für die „Agenda 2020“, eine „Reform“, die nicht im Ansatz die Grundprobleme der Spiele in Angriff nimmt, sondern lediglich den Bewerbungsprozess dynamisiert und ihn so für kritische Städte etwas risikoärmer machen soll. War es schon in der Phase der jeweiligen Bewerbungen schwer, sich gegen die lautstarken und finanzkräftigen Promoter des „Olympismus“ und ihrer medialen Unterstützer*innen Gehör zu verschaffen, drohen nun – kurz vor der Eröffnung der Spiele in Rio – kritische Gedanken über den olympischen „Geist“ im Grundrauschen einer nicht zuletzt national aufgeladenen Jubelberichterstattung unterzugehen.

Olympia bedeutet Profite für Wenige & Verdrängung von Vielen

Auch wenn in den wenigen Wochen der Austragung der Olympischen und Paralympischen Spiele tatsächlich „der Sport“ im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, so ist er doch beileibe nicht der eigentliche Grund, weshalb Politik und Wirtschaft diese Veranstaltung ausrichten wollen. Tatsächlich dient der Prozess der Bewerbung und Vorbereitung auf die Spiele, der sich über ein Jahrzehnt hinzieht und mit der Schlusszeremonie längst nicht beendet ist, vor allem dem Vorantreiben einer kapitalorientierten, am „Wettbewerb der Metropolen“ ausgerichteten Stadtplanung. Dabei werden ohne Rücksicht auf die schwächeren Teile der Gesellschaft die Interessen von Investoren und globaler Player durchgesetzt. Welche dramatischen Auswirkungen das haben kann, haben die letzten Monate in Rio gezeigt. Die Aufwertung potenziell attraktiver, aber für die Verwertung noch nicht erschlossener, dafür von lebendigen Communities belebten Stadtteile ging hier buchstäblich über Leichen, die – in vielen Bewerberstädten als typisches Olympisches Benefit beworbenen – Investitionen in die Infrastruktur zeigten ein klares Muster der Verdrängung und Marginalisierung ohnehin schon unterprivilegierter Bevölkerungsgruppen.

Uns als Olympiakritiker*innen ist es wichtig, gerade vor den medial verbreiteten Hochglanzinszenierungen von Rio sowie den erwartbaren Krokodilstränen hiesiger IOC-Fans („…. so ein unvergessliches Ereignis hätten wir in Hamburg auch haben können!“), erneut darauf hinzuweisen, dass die Probleme, die wir im vergangen Jahr in unser Kampagne in Hamburg thematisiert haben, struktureller Bestandteil des Systems Olympia sind, mögen sie auch global unterschiedliche Ausprägungen haben.

Olympische Spiele schaden jeder Stadt – eine auf Jahrzehnte festgelegte einseitige Politik zugunsten der Tourismus-, Bau- und Immobilienwirtschaft, Verlust von Arbeitsplätzen bzw. Verschlechterung von Arbeitsbedingungen, Umsatzeinbußen für kleinere und mittlere Gewerbetreibende, Privatisierung und Überwachung von öffentlichen Räumen, steigende Mieten – das sind nur einige der eigentlichen, langfristigen Effekte dieses Spektakels.

Olympia als undemokratisches Top-Down-Projekt des IOC

Ab dem Startschuss der Bewerbung ist alles darauf ausgerichtet, die Stadt und ihre Infrastruktur Olympia-tauglich zu machen. Dies unter einem enormen Zeitdruck und unter dem Gewicht von Milliardeninvestitionen. Alles andere wird davon gewissermaßen niedergewalzt. Für demokratische Mitbestimmung gibt es keinen Raum und keine Zeit. Stadtentwicklung unter olympischem Regiment ist immer ein Top-Down-Projekt, bei dem die Anwohner*innen keine Mitsprache eingeräumt wird. Alle Bau- und Infrastrukturmaßnahmen und die behördliche Planung werden an den scheinbar zwangsläufigen Anforderungen des Megaevents ausgerichtet, auch wenn sie für den „Alltagsmodus“ der gastgebenden Stadt völlig überdimensioniert oder schlicht unbrauchbar sind. Und mit jeder privatisierten öffentlichen Fläche gibt die Stadt auch ein Stück zukünftiger Handlungsfähigkeit ab. Die Folgen, für die Mehrheit der Einwohner*innen einer Stadt nachteilig, sind dabei für die Akteure, die die Bewerbung vorantreiben – in Hamburg war dies nicht zuletzt die Handelskammer – durchaus erwünscht, so muss man ihnen unterstellen.

Bei der Durchsetzung dieser Interessen werden unzählige Wagenladungen Public Relations-Vokabular benutzt, um den Menschen die Olympischen Spiele schmackhaft zu machen. So gehört beispielsweise das Stichwort „Nachhaltigkeit“ – ganz zeitgemäß – zum Standardrepertoire jüngerer Olympiabewerbung. Auch in Hamburg wurde dieser Begriff inflationär benutzt, wobei die Pro-Kampagne Nachhaltigkeit verkürzt übersetzte mit einer ökonomisch sinnvollen Nachnutzung der Sportanlagen. Dabei, dies zeigen die Erfahrungen vieler Austragungsorte von Olympischen Spielen (Peking, Sydney, London, Athen) bleibt nach den Spielen häufig das traurige Bild sogenannter „weißer Elefanten“ übrig. In Athen sind – zwölf Jahre nach der Olympischen Spielen – ein Großteil der Olympischen Wettkampfstätten verwaist und verwildert. In London gab es aufgrund der globalen Finanzkrise keine private Nachfrage für den Bau des Medienzentrums. Es musste mit knapp 1 Milliarde Euro aus dem Notfallfonds der Stadt finanziert werden und wird bis heute staatlich subventioniert. Auch die riesige Schwimmarena wurde nach den Spielen wieder geschlossen, weil der Betrieb für Schulsportunterricht und andere Alltagsnutzungen zu teuer war.

Von der Unmöglichkeit nachhaltiger Spiele

Die Unmöglichkeit nachhaltige Spiele durchzuführen, hat mit der Größe der Veranstaltung und den Interessen des IOC zu tun. Der Bau, die Durchführung, der Eventtourismus und der Umbau der Stadt werden so viel Emissionen verursachen, dass das Motto „klimaneutrale Spiele“ nur als Augenwischerei bezeichnet werden kann. Ökologische und soziale Nachhaltigkeit steht im Widerspruch zur Idee der Olympische Spiele, die alle vier Jahre an andere Orte wandern und immer größer werden. Nachhaltig könnten Spiele sein, die z.B. immer in Athen stattfinden, wo Stadien und Infrastruktur vorhanden sind und die olympische Idee verwurzelt ist. Nachhaltigkeit steht im Widerspruch zu den ökonomischen Zielen des IOC, der mit Sponsoren, wie Coca Cola und Mc Donalds kooperiert, die in der Liste der Ausbeuter von Umwelt und Arbeitnehmer*innen ganz oben stehen.

Ein häufig zu hörendes Argument in den Diskussionen zum Hamburger Referendum wies darauf hin, dass wenn „wir“ in den demokratischen, westlichen Ländern uns zu fein für die Spiele wären, es kein Wunder wäre, wenn die Spiele nur noch von Diktaturen ausgeführt werden würden. Dieses aus mehrfachen Gründen zynische Argument verschleiert eines der größten moralischen Probleme bei der Vergabe von sportlichen Großereignissen: Ländern ohne demokratische Mindeststandards wird es ermöglicht, sich für olympische Spiele und Co. zu bewerben, während das IOC keinerlei Einfluss über die Einhaltung humanitärer Standards bei der Planung und Durchführung der Spiele ausübt.

„Aus meiner Sicht sollte Sport nicht für politische Zwecke genutzt werden“, sagt der DOSB-Vize Vesper, selber lange Politiker der Grünen. Die Ironie ist, dass Sport natürlich für stadt- und staatspolitische Zwecke eingesetzt wird. Das ist – angesichts der hohen finanziellen Risiken für die gastgebenden Länder – der eigentliche Nutzen, der von der Politik angestrebt wird: Die Hoffnung auf Aufwertung der gastgebenden Stadt im internationalen Vergleich, die besondere Chance einer „günstigen“ Selbstdarstellung und die effektive Ablenkung von Problemen und Widrigkeiten der normalen politischen Tagesordnung. Faktoren, die besonders Diktaturen und Ländern mit „Problemen“ sich wünschen, genauso aber „lupenreine“ Demokratien westlicher Prägung. Faktoren im übrigen, deren Effekte gerade in Rio de Janiero besonders heftig in Erscheinung treten. Auch in Tokio in Vorbereitung der Spiele 2020, so hören wir von Betroffenen aus der japanischen Stadt, die über Vertreibungen und der Verschleierung von sozialen Problemen klage führen. Die Missachtung aber der universellen Menschenrechte wird durch die Vergabe von Großereignissen in deren Wirkungsbereich eher belohnt, jedenfalls nicht in Frage gestellt.

Agenda 2020: Keine Lösung der Probleme

Während sich das Konzept der olympischen Spiele in der Krise befindet, sind die beteiligten Organisationen (die sportlichen Spitzenverbände) offensichtlich nicht in der Lage einen notwendigen Reformprozess ihres Projektes aus sich selbst heraus anzustoßen. Darüber kann auch nicht die „Agenda 2020“ des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) hinweg täuschen, bei der es sich ohnehin nur um unverbindliche Empfehlungen handelt. Statt sich ernsthaft um eine wirkliche Veränderung der bisherigen Praxis zu bemühen, setzt das Komitee auf Imagepflege und letztlich auf eine Ausweitung seines Geschäftsbereichs.

Das zeigt auch das Beispiel Tokyo: Der Stadionneubau musste wegen dramatischer Kostenüberschreitung komplett neu gestartet werden, Skandale und Pannen prägen das Bild der mit der Organisation befassten Gremien, und das hochverschuldete Land sieht sich bereits jetzt, vier Jahre vor der Eröffnung, mit olympischen Kosten von mehr als 15 Milliarden US-Dollar konfrontiert. Das IOC indes ist zufrieden und bewirbt die Spiele in Tokyo als die ersten nach Beschluss der Maßgaben ihrer Agenda 2020.

Es wird also Zeit, dass der Impuls für die Neuerfindung der Spiele von außen kommt. Die neun Städte, die ihre Bewerbungen zurückgezogen haben, sind ein Anfang. Spätestens angesichts der bitteren Konsequenzen der Spiele für die Bevölkerung von Rio de Janeiro gilt es, die Spiele komplett neu zu denken. Doping, Korruption, Vetternwirtschaft, schwere Schäden an Stadt und Bevölkerung, die Stabilisierung und Aufwertung von undemokratischen Regimen müssen bei künftigen Spielen verhindert werden. Die Ideologie eines Schneller, Höher, Weiter ist ohnehin fragwürdig und gehört einem überholten Wachstumsdenken des letzten Jahrhunderts an. Soziale Gerechtigkeit (darunter fällt auch in allen Teilen einer Gesellschaft verfügbaren Zugang zu sportlichen Aktivitäten und Einrichtungen), wirkliche Nachhaltigkeit, Umweltverträglichkeit wären modernere und vor allem zukunftsträchtigere Antworten. Unter diesen Prämissen würde dann auch die Förderung eines nachhaltigen, sozialen, inklusiven und drogenfreien Sport fallen.

Lasst uns die Spiele neu erfinden!

Auch wenn sich die olympischen Spiele in Europa einen ziemlich schlechten Ruf erworben haben, sollten wir uns nicht darauf ausruhen und auf Besserung hoffen. Die Medaillenkämpfe können nicht von einem permanenten Missbrauch einer olympischen Idee ablenken, die ursprünglich mal dem Frieden und der internationalen Verständigung gewidmet war. In den kommenden Wochen unmittelbar vor und während der olympischen Sommerspiele 2016 gilt es daher, die Situation in Rio außerhalb des olympischen Dorfes und der Sportstätten genau zu beobachten und den Stimmen von „Rio On Watch“ und anderen kritischen Initiativen aus Brasilien Gehör zu schenken.

NOlympia Hamburg, im Juli 2016